Eine irreführende Grafik verharmlost Tote durch Klimawandel
Nein, auch diese Grafik widerlegt nicht den Klimawandel. Sie ist aus mehreren Gründen falsch.
Die Behauptung
Eine Grafik suggeriert, dass weltweite Todesfälle, die auf Klimaveränderungen zurückzuführen sind, seit 1920 stark zurückgegangen sind.
Unser Fazit
Die Grafik ist ziemlich irreführend: Sie zeigt jeweils Mittelwerte über 10 Jahre, extreme Einzelereignisse werden so verzerrt. Die Daten sind außerdem unvollständig und basieren auf Rosinenpickerei. Klimakatastrophen werden in diesem Jahrhundert weiter zunehmen.
Immer wieder kursieren in Social-Media-Kanälen vermeintliche Beweise, die zeigen sollen, dass der Klimawandel ein Schwindel ist oder seine Folgen zumindest stark übertrieben werden. Seit Anfang Januar wird eine Grafik besonders auf Twitter und Telegram verbreitet, die belegen soll, dass die Todeszahlen aufgrund von Klimakatastrophen seit 1920 massiv zurückgegangen sind. Die Grafik mit den Klimatoten stammt ursprünglich aus einem Paper von Bjørn Lomborg, das die Zahlen bis 2018 auswertete. Auf Facebook hat er am 1. Januar eine aktualisierte Version bis 2022 gepostet. Eben diese wird nun fleißig geteilt. Sie ist allerdings aus mehreren Gründen irreführend.
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Die Daten für Grafik sind vermutlich nicht vollständig
Die Zahlen der Grafik stammen aus der International Disaster Database (EM-DAT) der Université catholique de Louvain (Löwen in Belgien). Befüllt wird die Datenbank vom Forschern am „Center for Research on the Epidemiology of Disasters“. Nach eigenen Angaben enthält diese die „weltweit umfassendsten Daten über das Auftreten und die Auswirkungen von mehr als 24.000 technischen und naturbedingten Katastrophen von 1900 bis heute“. Berücksichtigt wurden von Lomborg laut seinen Angaben die klimabedingte Ereignisse: Überflutungen, Dürrekatastrophen, Stürme, Waldbrände und extreme Temperaturen. Geologische Katastrophen – Vulkanausbrüche, Tsunamis und Erbbeben – flossen nicht in seine Kurve.
Die Daten von EM-DAT werden Experten aus dem Fach als vertrauenswürdig eingestuft, auch der alle zwei Jahre erscheinende World Disaster Report des Internationalen Roten Kreuzes greift darauf zurück. Es gibt aber auch vorsichtigere Stimmen, die die Vollständigkeit am Beginn des 20. Jahrhunderts infrage stellen, wie z.B. Katja Frieler vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Knapp 90 Prozent der klimabedingten Katastrophen in der Datenbank seien nach 1980 aufgenommen worden.
Auch Felix Creutzig vom Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change hat berechtigte Einwände: Viele klimabedingte Todesfälle würden aufgrund der spezifischen Kriterien von EM-DAT gar keine Berücksichtigung finden. Er meint damit besonders Tote durch extreme Temperaturen. „Viele Hitzewellen sind nicht berücksichtigt, dabei ist deren Sterblichkeit nachweislich sehr hoch“, zitiert ihn tagesschau.de. Anders als z.B. bei einer Flutkatastrophe sterben die Menschen bei Hitze „eher schleichend über mehrere Tage“. Und viele davon würden deshalb gar nicht in der Datenbank landen. Eine Studie, die in Nature erschienen ist, spricht davon, dass rund 37 % der Hitzetoten direkt auf menschengemachten Klimawandel zurückzuführen sind.
Für alle untersuchten Länder stellen wir fest, dass 37,0 % (Spanne 20,5 – 76,3 %) der hitzebedingten Todesfälle in der warmen Jahreszeit dem anthropogenen Klimawandel zugeschrieben werden können und dass die erhöhte Sterblichkeit auf allen Kontinenten zu beobachten ist. Die Belastung variierte geografisch, lag aber vielerorts in der Größenordnung von Dutzenden bis Hunderten von Todesfällen pro Jahr. Unsere Ergebnisse unterstreichen die dringende Notwendigkeit ehrgeizigerer Abmilderungs- und Anpassungsstrategien, um die Auswirkungen des Klimawandels auf die öffentliche Gesundheit zu minimieren.
The burden of heat-related mortality attributable to recent human-induced climate change (2021), Vicedo-Cabrera et al.
Frieler: Eine „ziemlich irreführende“ Grafik
Problematisch sind allerdings nicht nur die eventuell unvollständigen Daten, sondern auch, wie sie von Lomborg grafisch umgesetzt wurden. Die Kurve zeigt nämlich die Mittelwerte über jeweils zehn Jahre. Extremereignisse eines einzelnen Jahres werden damit über eine ganze Dekade verteilt. Das bezeichnet Katja Frieler vom PIK als „ziemlich irreführend“. „Die Darstellung erzeugt den Eindruck eines stetigen Verlaufs von konstant hohen Werten auf verhältnismäßig niedrige Werte. Sie verbirgt, dass die hohen Werte am Anfang auf ganz wenige Ereignisse mit extrem hohen Todeszahlen zurückgehen“, wird sie von tagesschau.de zitiert.
Nimmt man das Jahr 1931, dann findet sich nur ein einziges Ereignis in der Datenbank. In diesem Jahr starben 3,7 Millionen Menschen bei einer Überflutung in China. Zwischen 1900 und 1970 gab es achte große Ereignisse mit Opferzahlen im Millionenbereich. Diese dominieren nicht nur die obige Auswertung, sondern sind hauptverantwortlich für den Verlauf der Kurve in Lomborgs Grafik. „Die Kurve suggeriert einen weltweiten Trend, der in dieser Ausprägung aber darauf zurückzuführen ist, dass in den letzten Jahren keine dieser sehr katastrophalen Ereignisse mehr erfasst wurden“, sagt Frieler.
Staud: Rosinenpickerei
Toralf Staud von klimafakten.de bestätigt, dass Todesfälle durch Klimakatastrophen zurückgegangen sind. Man habe global dazugelernt und stütze sich inzwischen auf ganz andere technische Möglichkeiten, um z.B. Unwetter und Naturkatastrophen besser vorauszusehen. Aber man sollte unbedingt aufpassen, dass nicht Ursachen und Vorsorge verwechselt oder vermischt werden. Außerdem lassen sich die Entwicklungen der Vergangenheit nicht linear in die Zukunft weiterzeichnen.
Es ist vielmehr so, dass Wetterextreme im Zuge der Erderhitzung nachweislich zunehmen und heftiger werden. Deshalb ist in Zukunft auch mit steigenden Opferzahlen zu rechnen, so Staud. In der Forschungscommunity ist dieser Fakt praktisch unumstritten. Ein Paper in Earth’s Future geht davon aus, dass bei einer globalen Temperaturerhöhung von zwei Grad, doppelt so viele Menschen von Flutkatastrophen betroffen sein werden als zur vorindustriellen Zeit. Ähnliches gelte für Hitzewellen, Stürme und Dürreereignisse. Der Weltklimarat (IPCC) geht in einem aktuellen Bericht sogar von 9 Millionen Klimatoten pro Jahr am Ende des Jahrhunderts aus.
Was Lomborg in seiner Grafik betreibe, ist laut Staud Rosinenpickerei. Dabei werden Daten hervorgehoben, die nur die eigene Meinung stützen. „So wird ein falsches Bild in die Welt gesetzt, was auf isolierten, aber für sich genommen durchaus korrekten Informationen basiert.“
Ein Trick ist immer das Weglassen von Daten. In der Grafik wurden nur die direkten Todesfälle von Klimaeinflüssen genommen, zum Beispiel durch Stürme. Aber die ganzen indirekten Todesfälle, wie durch den Klimawandel ausgelöste Hungersnöte, fehlen komplett. […] Wenn wir so weiter machen wie bisher, dann sind irgendwann ganze Landstriche nicht mehr bewohnbar. Der Meeresspiegel steigt an, es gibt Dürren und damit in Verbindung stehende Brände, die irgendwann nicht mehr zu löschen sind.
Klimaforscher Niklas Höhne, New Climate Institute
Die Datensätze aus EM-DAT lassen sich noch auf weiterem Wege interpretieren: Die Todeszahlen sind vielleicht niedriger geworden, aber die Anzahl der klimabedingten Katastrophen ist über 100 Jahre deutlich angestiegen. Mehr Menschen sind betroffen, die finanziellen Schäden werden immer höher. Die Grafik von Lomborg „suggeriert, dass wir uns in Zukunft keine Sorgen machen müssen über Todesopfer durch Klimawandel und durch Wetterkatastrophen, das ist aber absolut unzulässig und steht im krassen Widerspruch zum Stand der Forschung“, zitiert tageschau.de Toralf Staud.
Update: 06.02.2023
Ein Artikel in der Welt hat sich die Argumente vom Lomborg, aber auch die Kritik daran nochmals angesehen. Dabei werden u.a. detaillierte Zahlen zu Hungersnöten seit 1860 ins Spiel gebracht. Diese zeigen auf, dass Tote durch Hungersnöte besonders seit den 1960ern massiv abgenommen haben. Aber auch hier zeigt sich wieder dasselbe Problem, wie es oben bereits angesprochen wurde: Einerseits nehmen die Ursachen für Hungersnöte weiter zu, andererseits haben sich unsere Möglichkeiten diesen zu begegnen massiv gebessert. Dass sich dieser Trend weiter so fortsetzt, darf aber nicht vorausgesetzt werden.
Andere Argumente im zitierten Artikel sind aber leider auch irreführend: Wenn man sich wirtschaftlichen Schäden seit den 1960ern durch Naturkatastrophen relativ zum weltweiten Bruttoinlandsprodukt ansieht, dann sind diese eben nicht rückläufig. Sie haben sich in den 1990ern etwa verdoppelt und sind seit dem auf diesem hohen Niveau verblieben. Die Argumente zu den Kältetoten sind nicht besser: Die zitierte Studie beruft sich nur auf die „globalen Sterblichkeitstrends bei ischämischen Herzkrankheiten“ aufgrund von Hitze oder Kälte, die nur einen sehr kleinen Anteil der Toten durch Temperaturextreme ausmachen.
Fazit: Die Grafik basiert auf unvollständigen Daten, irreführender Darstellungsweise und Rosinenpickerei. Es fehlen z.B. jene Toten, die bei großer Hitze erst schleichend innerhalb von Tagen sterben oder indirekte Todesfälle durch ausgelöste Hungersnöte. Die Anzahl der Todesopfer durch Klimakatastrophen hat aufgrund technischer Weiterentwicklung und globaler Zusammenarbeit wirklich abgenommen. Man kann trotzdem daraus keine lineare Entwicklung für die Zukunft ableiten. Wetterereignisse werden durch den Klimawandel extremer. Der Weltklimarat geht im Moment sogar von neun Millionen Klimatoten pro Jahr am Ende des Jahrhunderts aus.
Quellen: tagesschau.de, ScienceDirect, EM-DAT, IPCC, New Climate Institute, Nature, AGU, klimafakten.de, PIK-Potsdam, Internationales Rotes Kreuz, Université catholique de Louvain
Mehr zum Thema: Foto der Schladminger Planai von 1988 widerlegt nicht den Klimawandel!
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