Irreführende Grafik suggeriert einen Rückgang klimabedingter Todesfälle – eine Detailanalyse
Einige Grafiken des Statistikers Björn Lomborg sind in klimawandel-„skeptischen“ Kreisen weit verbreitet. Doch was sagen sie aus?
Die Behauptung
Der bekannte Statistiker Lomborg behauptet zu einer von ihm verbreiteten Grafik, man sähe seit den 1920er Jahren einen Rückgang klimatisch bedingter Todesfälle um 99 %.
Unser Fazit
Der Startpunkt wurde am höchsten Punkt gewählt, 20 Jahre davor fehlen.
- Nichtklimatische Faktoren wie Kriege und politische Entscheidungen haben zu Missernten geführt oder sie verstärkt und Interventionen verhindert. Die Todeszahlen werden in Lomborgs Erklärung allein klimatischen Faktoren zugeschrieben
- Extreme Einzelereignisse werden durch die Darstellung von Mittelwerten verzerrt
- Die Daten sind unvollständig und berücksichtigen Hitzewellen nicht umfassend. Hitzetote nehmen bereits zu.
- Klimakatastrophen werden in diesem Jahrhundert weiter zunehmen.
Die Grafik, um die hier es geht, wurde bereits im Mimikama-Faktencheck „Eine irreführende Grafik verharmlost Tote durch Klimawandel“ erörtert und zeigt deutlich, warum Lomborg für Rosinenpickereien bekannt ist. In einer ausgiebigen Analyse warf nun der Faktenchecker „The Disproof“ einen genaueren Blick auf die Einzelereignisse, die zwischen 1900 und 1959 zu extrem hohen Todeszahlen geführt haben.
Spoiler: Nie waren Klima- oder Unwetterkatastrophen die alleinigen Faktoren, immer waren Kriege und politische Entscheidungen maßgeblich beteiligt.
Als Aufmacher sehen und hören wir Lomborg selbst behaupten: „Wir sehen einen Rückgang klimatisch bedingter Todesfälle um 99 %“.
Wen die Darlegung der statistischen Tricksereien Lomborgs im alten Faktencheck nicht überzeugen kann, mag vielleicht einmal über die Auswirkungen der folgend ausgearbeiteten Umstände auf die Zahlen nachdenken – doch zunächst ein Rückblick im Schnelldurchlauf (ausführlich hier):
Der statistische Trick
Extrem hohe Zahlen von Einzelereignissen auf einen zehnjährigen Mittelwert zu verteilen erzeugt den Eindruck eines gleichmäßigen Verlaufs und kaschiert das Ausmaß von Einzelereignissen.
Um den Rückgang der Todesfälle noch beeindruckender erscheinen zu lassen, hat Lomborg seine ursprüngliche Grafik von 2015 für die jetzt kursierende Neuauflage um die ersten 20 Jahre nach 1900 gekürzt.
Rosinenpickerei und Ignorieren sich wandelnder Bedingungen
Die technischen Möglichkeiten, um Unwetter und Naturkatastrophen vorherzusagen und ihnen zu begegnen, haben sich seit 1900 deutlich verändert. Man sollte nicht Ursachen und Vorsorge verwechseln. Womit wir uns langsam dem Punkt nähern, der den alten Faktencheck um ein wichtiges Argument verstärkt.
Datenbasis mit Lücken – nicht alle klimatischen Faktoren berücksichtigt
In dem der Grafik zugrunde liegenden EM-DAT-Datensatz finden viele klimabedingte Todesfälle, insbesondere durch extreme Temperaturen, aufgrund der spezifischen Kriterien von EM-DAT gar keine Berücksichtigung. Die Tagesschau zitierte Felix Creutzig vom Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change: „Viele Hitzewellen sind nicht berücksichtigt, dabei ist deren Sterblichkeit nachweislich sehr hoch“. Anders als z.B. bei einer Flutkatastrophe sterben die Menschen bei Hitze „eher schleichend über mehrere Tage“. Und viele davon würden deshalb gar nicht in der Datenbank landen.
Eine Studie, die in Nature erschienen ist, spricht davon, dass rund 37 % der Hitzetoten direkt auf menschengemachten Klimawandel zurückzuführen sind.
Großer Störeinfluss des Datensatzes durch nichtklimatische Faktoren vor 1960
Und jetzt zum entscheidenden Upgrade des Faktenchecks und einer Frage, die sich jeder skeptische Mensch bei der Interpretation einer Statistik stellen sollte: Gibt es Faktoren, die in der Statistik nicht unmittelbar erkennbar sind, aber einen Einfluss auf die Zahlen haben? Die Recherche kommt zu dem Ergebnis: Ja, solche Faktoren spielen eine Rolle und sie ist groß.
Das verlinkte Video wirft einen detaillierten Blick darauf. Eine zentrale Rolle spielen die Länder China, Indien und Bangladesch. In der Fotogalerie zum Beitrag sind Informationen in Form von Screenshots aufbereitet. Hier folgt nun eine Auflistung der Jahre mit extremen Todeszahlen mit der Benennung des klimatischen bzw. wetterbedingten Problems und der Faktoren, die im Überblick:
- 1900 Dürre (Indien) – vor allem wegen der damaligen Politik des Britischen Empires und der mangelnden Hilfe Großbritanniens.
- 1920 und 1921 Dürre (China) – Unmittelbar nach dem Zhili-Anhui Krieg kam es zu Ernteausfällen.
- Dürre von 1928 (China) – mehr politischer als natürlicher Natur, einschließlich der Zunahme der Opiumproduktion und der anhaltenden Kriege, die die Nahrungsmittelversorgung einschränkten
- Überschwemmungen von 1931 (China) – das war während des chinesischen Bürgerkriegs. Die meisten Todesfälle waren auf Krankheiten und Nahrungsmangel nach der Flut zurückzuführen. Der Einmarsch Japans in die Mandschurei nur wenige Monate nach der Überschwemmung machte die Sache noch schlimmer.
- Überschwemmungen 1938/39 (China) – Die Überschwemmung wurde durch die Zerstörung von Deichen durch die nationalistischen chinesischen Streitkräfte verursacht, um den Vormarsch der japanischen Truppen aufzuhalten.
- Dürre 1942 und 1943 (Indien/Bangladesch) – Kriegsbedingte Umverteilung der Nahrungsmittelversorgung verursachte die meisten Todesfälle
- Die Überschwemmungen von 1959 (China) – die Hungersnot war hauptsächlich auf die Fehler der damaligen Politik des „Großen Sprungs nach vorn“ zurückzuführen.
Die Botschaft zum Mitnehmen
Nicht alle Todesfälle in dieser Grafik sind allein auf Naturkatastrophen zurückzuführen. Verschiedene politische und kriegerische Situationen haben die Auswirkungen von Naturkatastrophen potenziert. Eine Zuschreibung der hohen Todeszahlen einzelner Jahre vor 1960 zu klimatischen Ursachen ist bei differenzierter Betrachtung völlig unhaltbar.
Derweil nehmen klimabezogene Todesfälle wieder zu, wie u.a. die oben verlinkte Nature-Studie zeigt. Im Vergleich zu den aufgelisteten historischen Ereignissen aus China, Indien und Bangladesch sind das natürlich Peanuts – nur sollte man eben den Hintergrund nicht außer Acht lassen.
Quellen:
Academia, Natural Disasters, Harvard T.H. Chan, National Centers for Environmental Information
Autor: Michael Kipp
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Hinweise: 1) Dieser Inhalt gibt den Stand der Dinge wieder, der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung aktuell
war. Die Wiedergabe einzelner Bilder, Screenshots, Einbettungen oder Videosequenzen dient zur
Auseinandersetzung der Sache mit dem Thema.
2) Einzelne Beiträge (keine Faktenchecks) entstanden durch den Einsatz von maschineller Hilfe und
wurden vor der Publikation gewissenhaft von der Mimikama-Redaktion kontrolliert. (Begründung)